#1 08.06.2016 11:39:44

Stoll P.
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Identität

der Zustand, dass jmd. oder etwas mit sich selbst eins ist.

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#2 08.06.2016 11:41:46

Stoll P.
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Re: Identität

Identität aus persönlicher Sicht

Wenn Sie sich jemand anderem vorstellen, was sagen Sie dann? Ich heisse Soundso. Ich bin verheiratet oder auch nicht. Habe Kinder oder auch nicht. Und dann ... sagen Sie „ich wohne in Scherz“ oder „ich komme von Scherz“? Was trifft auf Sie zu?
Mit solchen Fragen versuchen Soziologen bei Gemeindefusionen das, was als lokale Identität bezeichnet wird, festzumachen. Dass ich meine Adresse behalten darf, trifft es nicht; ein Teil meiner Identität soll aufgelöst werden. Das ist pures Bauchgefühl. Diese Identität macht sich indirekt bemerkbar. Deshalb heisst es UNSER Laden, UNSERE Schule, UNSER Brötliexamen.

Wie lange jemand an einem Ort wohnt ist ein weiterer Indikator für diese lokale Identität. Ich habe mir erlaubt, unter den älteren Kindern eine kleine Umfrage zu starten. Ich habe ihnen erklärt, dass nach einem Zusammenschluss Scherz so etwas wie der Rüchlig sein würde. Das Wappen und die Ortstafel würden bleiben, aber die Gemeinde hiesse dann Lupfig. Mit 13 zu vier Stimmen waren die Kinder gegen einen Zusammenschluss.

Der freiwillige und unentgeltliche Einsatz, der in unserer Gemeinde geleistet wird, wird genährt von lokaler Identität. Hatten wir je einen Mangel an freiwilligen Helferinnen und Helfern? Das ist nur möglich, weil wir uns mit unserer Gemeinde identifizieren und im gleichen Zug diese Identität wieder aufbauen.

Bei allem, wo der Bauch voll dahintersteht und das Herz daran hängt, wird grosser Einsatz geleistet werden. Bei den Scherzerinnen und Scherzern ist noch viel Bauch und Herz für UNSERE Gemeinde vorhanden: Hundert Personen waren am Infoabend.

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#3 08.06.2016 11:43:40

Stoll P.
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Re: Identität

Identität aus 'wissenschaftlicher' Sicht.

In dieser Arbeit wird bestehende Literatur zusammengefasst, und mit Interviews mit direkt und indirekt Betroffenen der Region Surselva aufbereitet. Einzelne Aussagen sind wahre Trouvaillen.

https://www.ap-pahud.ch/wp-content/uploads/2015/04/Gemeindefusion-Surselva.pdf, Seite 21


Lokale Identität

Das Leben in der Nachbarschaft, mit Freunden und Verwandten, ist einer der sozialen Kontexte, in denen lokale Identität hergestellt wird. Lokale Identität basiert nicht nur auf räumlich eingegrenzten Mustern, sondern ebenso in der Einbindung in komplexe kulturelle Prozesse. Bezeichnenderweise werden lokale kulturelle Besonderheiten durch die Anwesenheit Aussenstehender als solche nachhaltig reflektiert. Diese Reflexion führt zu einer Verteidigung des Eigenen, oft durch eine Polarisierung der Standpunkte, und wirkt damit als die Identität stützend. Im Diskurs werden die lokalen Traditionen abgegrenzt, mit Werten besetzt und als Besonderheit definiert.

Die lokale Identität stellt eine komplizierte soziokulturelle und sozialpsychologische Erscheinung dar. Die Herausbildung geschieht unter dem Einfluss einer Vielzahl von Faktoren. Eine bedeutende ist die Vorstellung über den Zustand jener lokalen Gemeinschaft, in der sich der Mensch ständig aufhält und mit der er sich in dem einen oder anderen Mass identifiziert. Nicht weniger wichtig sind die lokale historische Erinnerung, die Werturteile über eine Gruppe, ihr soziokulturelles Milieu und ihre natürliche Umwelt.

Der Einfluss der lokalen Identität

Die lokale Identität hat einen grossen Einfluss auf die Bereitschaft zu fusionieren. Je stärker sie ausgebildet ist, desto schwieriger sind Zusammenschlüsse umzusetzen. Oder, anders gesagt: Wenn die lokale Identität unterentwickelt ist, werden Gemeindefusionen zustimmend bzw. resignierend zur Kenntnis genommen. Besonders Erfolg versprechend sind Projekte, in denen bereits eine gemeinsame Identität auf der Stufe der neuen Gemeinde besteht. Dies führt so weit, dass die Fusionspartner nicht primär nach technischen Faktoren ausgewählt werden, sondern aufgrund der bestehenden gesellschaftlichen Bande.

Gemeinsame überkommunale Projekte wirken zusätzlich Identität stiftend. Vor allem im Moment des Zusammenschlusses ist es besonders wichtig, die bestehende lokale Identität – zumindest für die Übergangszeit – aufrechtzuerhalten. In ländlichen Gebieten, so z.B. besonders stark im Kanton Graubünden, haben Gemeindefusionen aufgrund der ausgeprägten lokalen Identität grössere Realisierungsschwierigkeiten. Wie kürzlich eine Umfrage in der Surselva ergab, war die Mehrzahl der Interviewpartner der Meinung, die Identität ihrer Gemeinden spiele beim Fusionsentscheid eine wichtige bis sehr wichtige Rolle.

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#4 08.06.2016 11:51:04

Stoll P.
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Re: Identität

Identität aus 'wissenschaftlicher' Sicht mit ein paar Zahlen

In diesem Forschungsprojekt aus dem Jahr 2009 wurden 99 fusionierte Gemeinden befragt. 55 haben geantwortet.
Drei Fragen und deren Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt:

http://www.htwchur.ch/fileadmin/user_upload/institute/ZVM/Bericht_Nachhaltige_Gemeindefusionen.pdf (Seite 6f und Seite 9f)

3. Identität
a.) Vorbemerkung
Der Begriff Identität ist im Fragebogen erklärt worden. Trotzdem muss berücksichtigt werden, dass er unterschiedlich verstanden worden ist. Es ist somit davon auszugehen, dass zumindest die quantitativen Ergebnisse eingeschränkte Aussagekraft besitzen.

(Fussnote: Kritiker von Gemeindefusionen bemängeln regelmässig den Verlust von Bürgernähe bzw. Identifikation mit der Gemeinde. Diese mehrheitlich soziologischen Argumente werden oft als weiche Faktoren bezeichnet. Im Zusammenhang mit Gemeindefusionen wird oft der Begriff der lokalen Identität verwendet. Bei „Identität“ geht es um „persönliche Ortsbindungen und ein ortsfestes Zusammengehörigkeitsgefühl“. Ortsbindungen sind messbar durch Wohndauer oder emotionale Elemente („fühle mich wohl hier“, „lebe gerne hier“ etc.). Typisch ist auch eine Selbstbezeichnung („ich bin aus dem Dorf X.“). Dadurch kommt zum Ausdruck, dass die Gemeinde als Heimat wahrgenommen wird, weil sie ans Herz gewachsen ist.)

Frage 2.1:
Für die Einwohner bedeutet eine Gemeindefusion auch Verlust der "Heimat" bzw. Identität.

16%   Ja, diese Aussage stimmt auch für unsere Gemeinde!
46%   Diese Aussage stimmt für unsere Gemeinde nur teilweise!
38%   Nein, diese Aussage stimmt nicht für unsere Gemeinde

Eine Gemeindefusion wird aus der Sicht der Gemeindepräsidenten der neuen Gemeinde mehrheitlich nicht (38 Prozent) oder nur teilweise (46 Prozent) als Verlust von Heimat bzw. Identität betrachtet (Abb. 6).

(Anmerkung P.S.: Auch hier ‚schöne Worte‘: Für 16 % bedeutet eine Gemeindefusion auch Verlust der "Heimat" bzw. Identität und für 46% mindestens teilweise)

Erwähnenswert ist die Aussage der (ablehnenden) Gemeinde Le Glèbe FR: „Wir wohnen weiterhin in einem Dorf und nicht in einer politischen Gemeinde!“ Für die Gemeinde Nesslau-Krummenau SG bedeutet fusionieren verändern und nicht festhalten. Interessant ist ebenfalls die Meinung der Gemeinde Splügen GR, wonach vor allem die auswärts wohnenden Bürger (welche die Fusion nicht unmittelbar mitbekommen haben) Probleme mit Verlust von Heimat/Identität hätten.

Ergänzungsfrage zu Frage 2.1:
Verlust von Heimat/ Identität ist ein besonderes Problem für ...

(Mehrfachantworten, absolute Werte)
12   die stark integrierten Einwohner (z.B. aktiv in Vereinen)
19   die "(Orts-)Bürger"
27   die älteren Einwohner (ab 50 Jahren)
19   die Einwohner der fusionierten Kleingemeinden bzw. dezentralen Gemeinden ("Randgemeinden")

(Anmerkung P.S.: Wer meint, dass sich die Emotionen nach der Fusion schnell legen würden, täuscht sich.
Hier noch ein Ergebnis:)

Frage 1.1:
Das Thema Fusion verliert -zumindest in der Wahrnehmung der Bevölkerung -nach der Inkraftsetzung rasch an Bedeutung.
60%   Ja, diese Aussage stimmt auch für unsere Gemeinde!
29%   Diese Aussage stimmt für unsere Gemeinde nur teilweise!
11%   Nein, diese Aussage stimmt nicht für unsere Gemeinde!

Für die grosse Mehrheit der Gemeinden verliert das Thema nach der Fusion rasch ganz (60 Prozent) bzw. teilweise (29 Prozent) an Bedeutung. Nur 11 Prozent der Gemeinden sind der Meinung, dass die Aussage nicht zutrifft (Abb. 4).

Es zeigt sich, dass alle grossen Gemeinden dieser Aussage zustimmen. Aber auch bei Kleingemeinden beträgt die Zustimmungsquote 50 Prozent.

(Aufgeschlüsselt nach Gemeindegrösse zeigt sich ein etwas anderes Bild:)

Grosse Gemeinden über mit über 5000 Einwohnerinnen:
100% Ja, diese Aussage stimmt auch für unsere Gemeinde!

Mittelgrosse Gemeinden mit 1000 bis 5000 Einwohnerinnen:
60%   Ja, diese Aussage stimmt auch für unsere Gemeinde!
27%   Diese Aussage stimmt für unsere Gemeinde nur teilweise!
13%   Nein, diese Aussage stimmt nicht für unsere Gemeinde!

Kleine Gemeinden bis 1000 Einwohnerinnen:
50%   Ja, diese Aussage stimmt auch für unsere Gemeinde!
40%   Diese Aussage stimmt für unsere Gemeinde nur teilweise!
10%   Nein, diese Aussage stimmt nicht für unsere Gemeinde!

In der Begründung wird darauf hingewiesen, dass sich für viele Einwohnerinnen und Einwohner gar nichts verändert hat (z.B. Dienstleistungen Administration, Steuerfuss etc.). Sofern die kommunalen Dienstleistungen reibungslos funktionieren, gäbe es keine Probleme. Zudem wird angeführt, dass neue kommunale Projekte motivierend wirken würden und eine neue Dynamik entstehen könne. Einige wenige Gemeinden erwähnen, dass insbesondere in kleinen Gemeindeteilen nach wie vor alles mit früher verglichen werde. Im Falle von Problemen sei die Begründung „Fusion“ rasch zur Hand.

Einschränkungen dieser Ergebnisse:
Ebenfalls zu berücksichtigen ist, dass der aktuelle Gemeindepräsident als (primärer) Adressat des Fragebogens die Situation seiner Gemeinde tendenziell positiv bewertet.

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